Blog-Eintrag -

Raubjournale: Welche Bedeutung haben sie für die Integrität der Wissenschaft?

Mehr als 5.000 deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben in den letzten Jahren in sogenannten Raubjournalen veröffentlicht. Weltweit liegt diese Zahl sogar bei 400.000. Darunter sind Forscher renommierter Forschungsinstitute und Universitäten, Mitarbeiter von Bundesbehörden – sogar ein Nobelpreisträger.

Dies ergab eine Recherche von NDR, WDR, Süddeutscher Zeitung, dem SZ-Magazin sowie weiteren führenden Medienhäusern in Europa, Asien und den Vereinigten Staaten. Die Recherche wurde außerdem vom International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) unterstützt.

Die Gruppe von Journalisten und Datenexperten analysierte 175.000 wissenschaftliche Artikel, die zwischen 2012 und 2018 von fünf der weltweit größten pseudowissenschaftlichen Plattformen veröffentlicht wurden. Ihr Dossier und die dazugehörige Datenbank, die nun öffentlich zugänglich sind, haben eine globale Debatte über die Integrität der Wissenschaft wiederbelebt.

Vertrauenswürdige Forschungsinformationen stellen weiterhin einen wichtigen Eckpfeiler des Forschungsprozesses dar und tragen zum Fortschritt von Wissenschaft und Menschheit bei. Angesichts der zunehmenden Besorgnis über das Gebaren der Raubverlage stellt sich die Frage welchen Beitrag vertrauenswürdige Verlage zur Wahrung von Vertrauen und Integrität leisten.

Dazu haben wir Dr. Philippe Terheggen, Geschäftsführer von STM Journals bei Elsevier, interviewt und mit ihm die wichtigsten Themen und Fragen zu Raubjournalen diskutiert.

Was ist ein Raubjournal?

Derzeitig gibt es keine allgemein anerkannte Begriffsdefinition, und die Wahrnehmung dessen, was der Begriff „Raubjournal“ bedeutet, ist sehr unterschiedlich. Ein guter Ansatz von Shamseer et al. versteht unter Raubjournalen solche, die "aktiv um Manuskripte werben und Publikationsgebühren verlangen, ohne robuste Peer-Review- und Redaktionsdienste anzubieten".

Autoren, die in Raubjournalen veröffentlichen, erhalten häufig nicht die Dienstleistungen und den Nutzen, den sie sich von einem Journal erhoffen und für den sie bezahlen. Diese Irreführung ist ein wichtiges Kennzeichen. Die Täuschungen umfassen häufig vielversprechende (aber nicht-existierende) Peer-Reviews, gefälschte Impact-Faktoren, fingierte Redakteure und sogar den bekannten, legitimen Fachzeitschriften unheimlich ähnelnde Namen. In einem Peer-Review beurteilen Fachkollegen Forschungsarbeiten vor Veröffentlichung in Bezug auf Stimmigkeit, Originalität, Gründlichkeit und Integrität der Forschung. Oft machen sie Vorschläge zur Verbesserung der Forschung, die dann von den Autoren eingearbeitet werden. Auf diese Weise wird so weit wie möglich sichergestellt, dass nur valide Forschungsbeiträge veröffentlicht werden.

Vertrauenswürdige Verlage engagieren sich sehr für die Verbreitung von ehrlichen, forschungsrelevanten und für einen effizienten Wissenstransfer geeigneten Forschungsinformationen, um qualitativ hochwertige Forschung zu fördern. Dies steht im direkten Gegensatz zu Raubjournalen, die weder Interesse an Integrität und Relevanz der Veröffentlichungen zeigen, noch um der Forschung willen in diese investieren.

Welche Faktoren tragen zur Verbreitung von Raubjournalen bei? Welche Rolle spielt dabei Open Access?

Die Karriere vieler Wissenschaftler hängt von der Veröffentlichung ihrer Forschungsarbeiten ab. In diesem Zusammenhang kann ein Open-Access-Modell, bei dem Wissenschaftler für das Publizieren zahlen, missbraucht werden: Die Zahlungsbereitschaft der Autoren kann ausgenutzt werden, ohne die vollen redaktionellen und publizistischen Leistungen eines renommierten Verlags zu erbringen – einschließlich eines gründlichen Peer-Review-Verfahren und der Verpflichtung zur Langzeitarchivierung.

Außerdem kann Technologie die Entstehung illegitimer Journale erleichtern, da die Einrichtung einer Website, das Versenden von Spam-Mails an Tausende potenzielle Autoren und der Empfang elektronischer Zahlungen wesentlich schneller ist als die Einrichtung und der Verkauf elektronischer Zeitschriftenabonnements.

In der Regel entscheiden Bibliothekare, welche Zeitschriftenabonnements sie kaufen. Sie verfügen über ein hohes Maß an Expertise und Erfahrung bei der Bewertung von Zeitschriften und Verlagen. Wissenschaftler hingegen sind nicht immer im gleichen Maße in der Lage, unbekannte Journale zu beurteilen: Gerade unerfahrene Forscher oder diejenigen, die in neueren Institutionen forschen, können eher den Raubjournalen zum Opfer fallen. Aber auch erfahrene Wissenschaftler können durch gefälschte Impact-Faktoren, das Kopieren der Namen etablierter Journale oder falsche Angaben zum Verlagsstandort bei der Beurteilung einer neuen Fachzeitschrift in die Irre geführt werden.

Es versteht sich von selbst, dass ein Open-Access-Modell auch von immer mehr renommierten Fachzeitschriften, seien es etablierte Titel oder Neuerscheinungen, eingesetzt wird und nicht als Indikator für Raubverlage verstanden werden sollte. Neben vertrauenswürdigen Full Gold-Open- Access-Titeln spielen gemischte Journale weiterhin eine wichtige Rolle, um Autoren Veröffentlichungen in etablierten, vertrauenswürdigen Journals im Rahmen des Open-Access-Modells zu ermöglichen.

Warum ist Peer-Review wichtig?

Peer-Review ist das Verfahren, mit dem Experten auf dem jeweiligen Gebiet Forschungsarbeiten auf Gültigkeit, Bedeutung, Originalität und Klarheit prüfen. Es ist somit der Eckpfeiler des wissenschaftlichen Validierungsverfahrens. Dass sich das Wesen dieses Verfahrens über Jahrhunderte hinweg nicht verändert hat, ist ein klares Zeichen für seinen Wert. Trotz der Herausforderungen, die 2016 in einer Elsevier-Studie angesprochen wurden, gilt Peer-Review immer noch als der fairste Weg zur Bewertung der Forschungsqualität.

Der Peer-Review-Prozess dient hauptsächlich dazu, wissenschaftliche Schlussfolgerungen von Spekulationen und Meinungen zu trennen. Er stützt den kumulativen Charakter wissenschaftlicher Erkenntnisse und ermöglicht es den Forschern auf den Erkenntnissen anderer aufzubauen. Einfach ausgedrückt: Peer-Review erhöht die Qualität der Forschung.

Ein äußerst wichtiges Ergebnis von Peer-Review, obwohl meist nicht sichtbar, ist die Früherkennung von Plagiaten und Interessenkonflikten, was zur Aufrechterhaltung der Integrität von Forschungsergebnissen beiträgt. Weitere Vorteile des Peer-Review-Prozesses sind Ausbildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten für Nachwuchsforscher sowie Zugang zu konstruktivem Feedback, was den Forschungsprozess insgesamt verbessert.

Auch wenn sich das Peer-Review-Verfahren seit der Veröffentlichung des ersten Journals nicht wesentlich geändert hat, wird stetig an seiner Weiterentwicklung gearbeitet. Entwicklungen, die zur Transparenz rund um das Thema Peer-Review beitragen, wie beispielsweise offene Peer-Review-Berichte, können bei der Erkennung von Journalen mit robustem Peer-Review von großem Nutzen sein.

Was wird benötigt, um qualitativ hochwertiges Peer-Review aufrechtzuerhalten?

Die Aufrechterhaltung eines qualitativ hochwertigen Peer-Review-Prozesses erfordert viel Zeit und Mühe vieler Beteiligter, darunter besonders von den Prüfern selbst. Verlage unterstützen den Prozess und arbeiten partnerschaftlich mit der Forschungsgemeinschaft zusammen.

Am Anfang des Peer-Review-Prozesses steht der Aufbau und die anschließende Rotation von Redaktionsteams, welche häufig vom Verlag ausgewählt und unterstützt werden. Die Redakteure prüfen alle neuen Beiträge auf wissenschaftliche Fundiertheit, auf den Standard der englischen Sprache, wie gut die Zielgruppe des Journals und der Beitrag zusammenpassen und auf ethische Kriterien, wie z.B. gegensätzliche Interessenaussagen. Die Redaktionssysteme von Elsevier stellen den Redakteuren für jede Einreichung einen sogenannten Crossref Similarity Check-Report zur Verfügung, um ihnen bei der Erkennung von Plagiaten und Vervielfältigungen zu helfen.

Beiträge, die diese erste Bewertung überstehen, bekommen von den Redakteuren sachkundige Prüfer zugeteilt (normalerweise sind mehrere Reviews erforderlich, um eine Publikationsentscheidung zu treffen), oft mithilfe von Tools wie Elseviers Find-Reviewer-Tool von Scopus. Die Suche nach den richtigen Prüfern mit ausreichend Zeit kann an sich schon eine zeitraubende Angelegenheit sein.

Bei Annahme eines Review-Auftrags kann ein Prüfer viele Stunden damit verbringen, den Artikel zu bewerten und dem Redakteur und Autor Feedback zu geben. Nachdem der Redakteur das Feedback betrachtet hat, wird er ein Urteil über den Beitrag abgeben. Das kann wiederum eine Überarbeitung durch den Autor und eine anschließende Peer-Review-Runde durch die ursprüngliche oder in einigen Fällen neue Prüfer beinhalten. Der gesamte Peer-Review-Prozess erfolgt in der Regel über ein vom Verlag bereitgestelltes Online-Redaktionssystem. Elseviers jüngste Ankündigung einer Vereinbarung zur Übernahme von Aries Systems ist das Beispiel eines Verlages, der in Systeme zur bestmöglichen Unterstützung des Peer-Review-Prozesses investiert.

Ein Themenschwerpunkt vieler Verlage, darunter auch von Elsevier, ist das Training, die Suche, Anerkennung und Bindung von Peer-Reviewern. Ein aktuelles Beispiel ist die Kooperation von Mendeley mit der Open Researcher Contributor Identification Initiative (ORCID), die es Benutzern ermöglicht, Peer-Review-Daten aus ihrem ORCID-Profil in ihr Mendeley-Profil zu importieren, indem sie ihre ORCID-ID mit ihrem Mendeley-Konto verbinden.

Peer-Review hört nicht bei der Veröffentlichung eines Artikels auf. Redakteure und Verlage können von der Forschungsgemeinschaft Beiträge zu einem Artikel nach der Veröffentlichung erhalten - zum Beispiel zu einer falschen Behauptung oder einem ethischen Problem in dem veröffentlichten Beitrag. Bei Elsevier werden alle diese Beiträge von Redakteuren und Verlegern gemäß den Best Practices des Committee on Publication Ethics (COPE) bearbeitet. Eine faire und robuste Untersuchung eines komplexen Falles kann Hunderte von Stunden dauern, wobei die Redakteure häufig den Rat der Rechtsexperten von Elsevier benötigen. Ein kleiner Prozentsatz der Beiträge muss korrigiert oder sogar zurückgezogen werden; legitime Zeitschriften tun dies auf eine transparente Weise, die den Leser warnt, wenn sich die Forschung als unzuverlässig herausstellt.

Dieses Bekenntnis zur Integrität der Forschungsbilanz ist bei renommierten Verlagen und Zeitschriften üblich. Es unterscheidet sie von Raubjournalen, wo ein solcher Aufwand kaum vorkommt.

Wie können Wissenschaftler, Behörden und die Öffentlichkeit Raubjournale von renommierten Journalen unterscheiden?

„Think Check Submit“ ist eine branchenübergreifende Initiative von Vertretern von ALPSP, DOAJ, INASP, ISSN, LIBER, OASPA, STM, UKSG und einzelnen Verlagen. Es ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie viele Akteure, einschließlich Elsevier, sich zusammenschließen und das Problem des räuberischen Publizierens angehen. Think Check Submit bietet einfache Richtlinien für Autoren, um eine Zeitschrift zu bewerten, bevor sie einen Artikel einreichen. Diese Richtlinien können gleichermaßen von Lesern angewandt werden, um vertrauenswürdige Quellen zu identifizieren. Darüber hinaus gibt es Trainings für Autoren, wie Elseviers Researcher Academy, die Module zum Finden des richtigen Journals anbietet.

Journal- und Verlagsmarken helfen weiterhin Autoren und Konsumenten von wissenschaftlichen Veröffentlichungen bei der Identifizierung seriöser Journals. Das akademische Ansehen der Redaktionen, die Qualität des Peer-Review-Verfahrens, die Zitier-Metriken für veröffentlichte Artikel und die Marketinganstrengungen des Verlags sind wichtige Faktoren für die Wahrnehmung einer solchen Marke.

Jüngst haben Experten die Einführung von Qualitätssiegeln in Betracht gezogen. Würden Qualitätssiegel helfen, die Integrität der Wissenschaft zu bewahren?

Auch wenn der Reiz eines Qualitätssiegels verständlich ist, besteht immer noch das Missbrauchsrisiko von Raubjournalen, ähnlich wie auch „White Lists“ missbraucht werden können. Wir haben vom Missbrauch anderer Qualitätssiegel gehört, wie beispielsweise fälschlich dargestellte Aufnahmen in Indexierungsdiensten oder sogar die Verwendung etablierter Zeitschriftentitel. Weitere Herausforderungen könnten die Ermittlung einer geeigneten, allgemein anerkannten Vergabestelle sowie die Ermittlung und Festlegung allgemeiner Aufnahmekriterien sein. Wenn sich Autoren weitgehend auf Qualitätssiegel, "White Lists" oder "Black Lists" verlassen würden, könnten sie u.U. ganz neu eingeführte Zeitschriften nicht voll bewerten, was diese wiederum benachteiligen würde.

Wir werden weiterhin gemeinsam mit Industriepartnern nach Lösungen suchen. Wir glauben aber dennoch, dass Aufklärungs- und Sensibilisierungsbemühungen (wie „Think Check Submit“) zunächst die beste Strategie gegen Raubjournale bilden.

Ist der Druck zu veröffentlichen zu hoch? Und gibt es grundsätzlich zu viele Veröffentlichungen?

Für viele Forscher bilden Veröffentlichungen nach wie vor die besten Beförderungs- und Finanzierungsmöglichkeiten. Wir engagieren uns für Qualität und Effizienz im Publikationsprozess und glauben, dass in einigen Fällen die Kommunikation von Forschungsergebnissen mit weniger Artikeln erreicht werden könnte. Hohe und steigende Ablehnungsraten und die teilweise geringe Online-Nutzung einzelner Artikel deuten darauf hin, dass alle an der Kommunikation der wissenschaftlichen Forschung Beteiligten an einer Qualitäts- und Relevanzsteigerung arbeiten. Unserer Meinung nach kann aber auch der Umfang und die (Zitier-) Qualität der veröffentlichten Forschung mit der steigenden Zahl von Forschern weltweit wachsen.

Wir erkennen den Druck auf die Forscher, international zu veröffentlichen und Forschungsrichtungen zu beeinflussen, als Realität an. Als Partner der Wissenschaft ist es unsere Aufgabe, den Publikationsprozess zum Wohle von Autoren, Reviewern und Redakteuren im Hinblick auf Effizienz zu optimieren. Wie können wir beispielsweise Peer-Review-Kommentare sinnvoll nutzen, wenn ein Artikel abgelehnt und an eine andere Zeitschrift weitergeleitet wird? Wie machen wir es einem Autor so einfach wie möglich, den richtigen Platz für seine Forschung zu finden, ohne seinen Artikel ständig neu einreichen zu müssen? Wie können wir den Autorenaufwand bei der Formatierung von Artikeln auf die erforderlichen Zeitschriftenstandards minimieren, bevor ein Artikel überhaupt zur Veröffentlichung angenommen wird? Dies sind nur einige der Fragen, an deren Lösung wir in Form von Initiativen wie dem Article Transfer Service und Your Paper Your Way ständig arbeiten. Zusammen mit der richtigen Technologieplattform sorgen diese Bemühungen für einen effizienten Wissenstransfer von vertrauenswürdigen Informationen.

Was empfiehlt Elsevier, um die Verbreitung von Raubjournalen einzudämmen? Welche Akteure müssen gemeinsam an einer Lösung arbeiten?

Aufklärung und Sensibilisierung bleiben wichtige Themen und werden auch in Zukunft in der Zusammenarbeit mit anderen Industriepartnern gefördert. Forschungsinstitute und -förderer sind dabei Schlüsselfiguren. Zusätzliche Zusammenarbeit und gemeinsames Engagement für ein Bewertungssystem, das Qualität über Quantität des Forschungsoutputs stellt, würde die Anreize für Raubjournale deutlich verringern. Bei einer solchen Bewertung von Forschungsinstituten und -förderern erkennen wir schon Fortschritte. Elsevier setzt sich weiterhin für solche Bemühungen ein, indem wir eine Auswahl an transparenten, auf Zitierungen basierenden Metriken zur Verfügung stellen und mit einer Reihe von Partnern an Bewertungsmechanismen für Forschungsleistung arbeiten. 

Kategorien

  • unternehmen

Zugehörige Meldungen