Blog-Eintrag -

Liebe Freundschaft und Rock n'Roll (8)

Leseprobe:

Im darauffolgenden Monat fing Helena bei der Speditionsfirma Rohner & Gehrig an. Ihre Aufgabe bestand darin, gebuchte Eintragungen gegen Rechnungen und Belege zu kontrollieren. Es handelte sich lediglich um Ziffern, die ihr überhaupt keine Sprachschwierigkeiten bereiteten. Es fühlte sich ungewohnt an, österreichische Kollegen zu haben und die Mentalitätsunterschiede führten manchmal zu ärgerlichen Verwickelungen. Helena hatte anfangs Schwierigkeiten sich einzufügen, sie eckte an.

Da arbeiteten vorwiegend Männer. Es gab zwar einige Frauen auch, aber sie waren alle älter als sie. Helena störte ihre dauernde Fragerei. Sie waren offensichtlich neugierig, warum und wie sie als Fremde gerade in ihrer Firma aufgenommen worden war. Sie war die einzige Ausländerin und man nannte sie nicht beim Namen, wenn man von ihr sprach, sondern sie hörte mehrmals wie man sie als „Das Schwedenmädl“ bezeichnete. Man diskutierte hinter ihrem Rücken, ob sie Verwandte in der Stadt oder irgendwo auf dem Land hatte, war sie vielleicht sogar ein Waisenkind?


Viele der Angestellten waren vom Krieg verzerrte Menschen. Noch nie hatte Helena Menschen ohne Beine und Arme gesehen, Männer, die sich mit Prothesen oder mit Hilfe von zwei Stöcken vorwärts bewegten, nur ein Auge oder keine Nase hatten oder gelähmt in einem Rollstuhl ihr Leben verbrachten. Helena wurde daran erinnert, dass Österreich ein Teil des deutschen Reiches, des Naziregimes, bis zum Kriegsende gewesen war. Diese Männer waren alte Soldaten, manche waren in Gefangenschaft gewesen. Nach dem Kriegsende hatten die Alliierten das Land und die Hauptstadt in verschiedene Zonen eingeteilt. Die Sowjetunion hatte erst einige Tage vor dem Staatsvertrag im Jahre 1955 ihre Streitkräfte zurückgezogen. Man erzählte, dass die sowjetischen Soldaten alles Tragbare und Transportierbare nach Russland mitgeschleppt hatten. Sogar die Wassertoiletten und die Wasserhähne waren in die Sowjetunion verschwunden. Jeder konnte noch mit eigenen Augen feststellen, wie große Teile von Wien noch immer Bombenschäden und Warenmangel aufwiesen.


Von Schweden war Helena gewöhnt, mit ihren Kollegen mittags in der Betriebsküche essen zu gehen, aber hier gab es keine Mensa. Die meisten Kollegen hatten Kaffee in Thermosflaschen mit und den tranken sie beim Schreibtisch. Dazu aben sie ihre Brote oder Wurstsemmeln, die nach Knoblauch rochen. Aus so mancher Aktentasche wurde ein Stinkkäse namens Quargel, ein kleiner, runder, stark riechender Käse herausgefischt und mit Genuss verspeist. Man lachte dabei und erzählte sich wilde Geschichten. Leider konnte Helena da nicht mitmachen, denn sie hatte noch Sprachschwierigkeiten und hier sprach man außerdem ein unverständliches Wienerisch. Man bat sie „Zwirnknäulel“ zu sagen und dann lachte man ihre vergeblichen Versuche aus. Es war nicht böse gemeint, es klang nur so komisch in ihrem Munde, versicherte man ihr.

Man meinte auch, dass sie sich extravagant kleidete. Sie trug mit Vorliebe einen schwarzen Hut und einen roten Mantel mit Schal. In Wien waren es nur die vornehmsten Damen, die sich diesen Luxus leisteten. Gewöhnliche Frauen trugen ein Kopftuch, wurde ihr mitgeteilt. Aus diesem Anlass glaubte man vermutlich auch, dass Helena etwas Besonderes sei und man hütete sich, sich allzu offen in ihrer Gegenwart zu äußern. Man konnte ja nie genau wissen, was sie von dem, was gesagt wurde, verstand und mit wem sie dann in ihrer Freizeit verkehrte.

Eine Schwedin zu sein, war trotzdem vorteilhaft, dachte Helena, als sie hörte wie ihre Kollegen von den Gastarbeitern sprachen, die jetzt langsam aus den südlicheren Ländern, beispielsweise von Griechenland und Italien, nach Österreich kamen. Man nannte sie „Tschuschen“ und vertrat Ansichten wie zum Beispiel, dass „sie wieder dort hingehen sollen, wo sie hingehören“, oder auch selbstkritisch: „der Balkan beginnt bei der Simmeringer Hauptstraße“. Diese Straße liegt südöstlich von Wien und alles, was aus dem Osten kam, schien verpönt zu sein. Helena war erstaunt über den rauen Ton, der manchmal hier vorherrschte und abermals fragte sie sich, ob sie auch alles wirklich richtig verstand.

Leseprobe aus  „Liebe, Freundschaft und Rock n' Roll"

"Kärlek, vänskap och Rock n' Roll" ist der schwedische Titel dieses Buches.

 Lilian O. Montmar, Schriftstellerin

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