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Trendanalyse: Was soll das Internet vergessen?
„We have more wisdom, than we know how to use in practise”, schrieb Percy B. Shelley schon im Jahr 1819 – uns steht mehr Wissen zur Verfügung, als wir nutzen können. Fast zweihundert Jahre später zwingt das Internet mit seiner Masse an Informationen den Nutzer ständig dazu, „richtiges“ von „falschem Wissen“ zu unterscheiden, also die vorliegenden Informationen zu bewerten. Das ist ein komplexer Prozess, der unter anderem zur Folge hat, dass das eigentliche inhaltliche Wissen gegenüber dem „Wissensmanagement“ an Bedeutung verliert. Nur: Letzteres ist wertlos ohne das Inhaltswissen, das aus historisch belegbaren Informationen, aber auch überlieferten Symbolen und Riten besteht. Damit bestimmt es Identität und Gedächtnis einer Kultur. Das Internet kann man gewissermaßen als kollektives Gedächtnis der digital vernetzten Welt verstehen. Wo es ein Gedächtnis gibt, wird normalerweise auch vergessen – nicht so im Netz. Diese Thematik beschäftigt seit einiger Zeit Politik, Medien und Wissenschaft (darunter Svenja Möller, Nina Degele, Aleida Assmann, Oliver Dimbath; Nachweise siehe unten).
Internet als Gedächtnis?
Wer sich zum Thema Vergessen im Internet äußern will, muss zwangsläufig fragen: Ist das Internet überhaupt ein Gedächtnis?
Die Kultur- und Sozialwissenschaft kennt, neben dem individuellen Gedächtnis, das kollektive Gedächtnis, wie es zum Beispiel Maurice Halbwachs beschreibt, sowie das sogenannte kulturelle Gedächtnis (Jan und Aleida Assmann). Hier unterscheidet man Funktions- und Speichergedächtnis:
- Das Speichergedächtnis nimmt alles auf – unabhängig von seiner Wichtigkeit und losgelöst von jedwedem Träger.
- Das Funktionsgedächtnis dagegen ist das Gedächtnis einer bestimmten Gruppe; es ist selektiv, wertgebunden und zukunftsorientiert.
Das Internet könnte man als Speicher sehen – als ein Archiv, in dem theoretisch jede Information zu finden ist. Das würde bedeuten: Das Internet verbindet die Angehörigen eines Kulturkreises durch überlieferte Wissensbestände und ermöglicht dadurch kollektive Identität.
Gleichzeitig ist das Internet aber auch ein Kommunikationsmedium und kann damit auch als Funktionsgedächtnis gedeutet werden. Somit wäre es Ausdruck gemeinsamer Wahrnehmungsmuster, die im Leben der Angehörigen einer Gruppe Sinn und Bedeutung stiften. Der Einzelne kann sie abrufen, indem er sich erinnert. So bleibt das gemeinsame Gedächtnis der Gruppe erhalten. (Solche Abwägungen vollziehen etwa Oliver Dimbath, Achim Landwehr und Stefanie Stockhorst)
Im Zeitalter des globalen Internets ist also auch gar nicht mehr so klar, was eigentlich eine „Gruppe“ ausmacht. Sieht man das Internet gleichermaßen als Medium und als Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses, dann ist es als universelles Sammelgedächtnis der digital vernetzten Welt zu verstehen.
Zugänge zu Informationen sichern
Die Digitalisierung macht vieles leichter: die Suche nach Daten, den Zugriff und den Austausch von Daten. Sollen digitalisierte Daten aber auch in ein paar Jahren noch verfügbar und nutzbar sein, gelten bestimmte Voraussetzungen:
- Die Datenträger müssen unbeschädigt sein,
- Format, Dateisystem und Codierung müssen weiterhin bekannt sein und
- die zum Lesen notwendige Hardware muss noch vorhanden und verwendbar sein.
Sind Daten nur mit einer bestimmten, nicht aktualisierten Software zugänglich, sind sie nicht mehr lesbar und daher wertlos. Entscheidend für die Langzeitarchivierung ist die Abwärtskompatibilität.
Auch wenn Speicherorte sich ändern, sind Daten verloren, da Verweise und Verknüpfungen ins Leere laufen. Persistent URLs sollen das Problem lösen, indem sie in einem Register eine eindeutige und unveränderbare Adresse sowie die physische Ressource speichern. Unklar ist, wie der Zugriff auf ein solches URL-Register sichergestellt werden kann.
Speicherung und Zugriffsmöglichkeiten werden folglich zur Machtfrage. Mit speziellen Technologien und Techniken können Einzelpersonen unerwünschte Informationen unauffindbar machen oder vollständig vernichten, ohne dass Geschädigte das sofort bemerken. Zudem kann die Marktmacht besonders erfolgreicher Firmen dazu führen, dass Geräte zur Sicherung der eigenen Marktplatzierung nur mit der ursprünglichen Hardware kompatibel sind. Da zur Gewinnmaximierung die Konzentration auf Neuheiten angezeigt ist, werden die Technologien jedoch nur so lange angeboten, wie der Preis den Herstellern akzeptabel erscheint. Das Interesse an der Herstellung miteinander kompatibler Produkte oder am „Mitschleppen“ veralteter Formate ist daher gering.
Das Gleiche sehen wir im Netz: Steigende Zugriffszahlen erhöhen die Unterhaltskosten für Websites, die zum Beispiel Wikipedia nur durch Spenden decken kann. Die geschätzte durchschnittliche Website- Überlebensdauer von 44 Tagen überrascht da kaum.
Was sind Informationen wert?
Durch die Menge der Informationen sowie die Leichtigkeit ihrer Beschaffung sinkt gleichzeitig auch ihr Marktwert (so argumentiert zum Beispiel Balázs Bárány). Systeme zur Vergütung von Autoren haben bisher nicht fertiggebracht, mit kollaborativ erstelltem oder unter freien Lizenzen stehendem Content umzugehen. Die Rechtslage ist unübersichtlich, und die Einstellung zu Grundwerten wie dem Urheberrecht ändert sich.
Denn aus der Speicherung – und dem Vergessen – von Informationen ergibt sich die Frage nach Datenschutz und Eigentumsrechten. Neue Archivierungsmethoden, wie zum Beispiel die Erfindung von Napster, erfordern andere rechtliche Regulierungen, da Informationen mit der Einstellung ins Netz irreversibel öffentlich zugänglich, beliebig oft kopierbar und veränderbar sind. Das bietet ungeahnte neue Möglichkeiten kreativen und wissenschaftlichen Arbeitens ebenso wie Risiken.
So befürchten etwa Internetdienstanbieter, für nicht mehr zu kontrollierende Inhalte verantwortlich gemacht zu werden, gleichzeitig werden Forderungen nach einer Stärkung des Urheberrechts laut. Diese treibt wiederum die Kommerzialisierung des Internets an und gefährdet durch Kopierschutzmaßnahmen und Nutzungsbeschränkungen die Langzeitarchivierung. Informationen, die aus rechtlichen Gründen entfernt werden müssen, verschwinden möglicherweise vollständig, werden also „vergessen“. (Neben Bárány und Möller beschäftigt sich mit diesem Thema auch Udo Thiedeke)
Speichern und Vergessen
Um ein System dauerhaft zu erhalten, müssen sich Speichern und Vergessen die Waage halten. So lautet ein grundlegendes Argument des Kulturwissenschaftlers Thomas Dreier. Im Internet stehen Nutzer vor dem Problem, dass sie unbedachte Äußerungen nicht mehr aus dem Netz entfernen können, die unter anderen Umständen schnell vergessen wären. Andererseits verlieren wir teils unbemerkt immer wieder große Mengen gespeicherter Daten.
Die Frage nach der „Haltbarkeit“ digitaler Daten stellt sich vielen gar nicht. Jedoch ist etwa die Lesbarkeit digitaler Datenträger anders als bei Büchern bereits nach wenigen Jahren eingeschränkt. Ebenso wie die Sprache, die in der Gesellschaft für Orientierung sorgt (siehe Peter Berger und Thomas Luckmann) sorgt, muss aber die „Computersprache“ verstanden werden, um zum Erhalt von digitalen Informationen beizutragen.
Handelt es sich hierbei also um ein „Vergessen“? Ja und nein. Schwer lesbare digitale Informationen können rekonstruiert werden, wie beim Vergessen im klassischen Sinne – etwas Vergessenes kann einem wieder einfallen. Doch Daten, die vollständig aus dem Netz verschwinden, sind nicht nur „vergessen“, sondern zumeist unwiederbringlich gelöscht – was nicht mit dem „Löschen“ eines Social-Media-Profils zu verwechseln ist. Denn hier sind die Informationen in der Regel vom jeweiligen Anbieter archiviert, auch wenn sie für die Nutzer nicht mehr sichtbar sind, d.h. sie könnten erneut abgerufen werden.
Ein Beispiel für einen irreversiblen Datenverlust ist jedoch der Homepage-Dienst GeoCities. Im Jahr 1994 gegründet und 1999 von Yahoo übernommen, bot GeoCities einen kostenlosen, durch Werbung finanzierten Vorläufer zu heutigen Plattformen und war zunächst auch ähnlich populär. Doch da viele Nutzer abwanderten, das Image litt und Yahoo sich in einer finanziellen Krise befand, wurde der Dienst 2009 eingestellt. Damit ging eine Unmenge an Daten verloren. Heute ist nur noch GeoCities Japan regulär verfügbar. Am Verlässlichsten ist Datensicherung also dort, wo die betreffenden Daten eine finanzielle Bedeutung besitzen, ungeachtet ihres kulturell sinnstiftenden Wertes (So die Argumentation von Thomas Dreier).
Der Wert des Information im 21. Jahrhundert
Zwangsläufig ergibt sich daraus die Frage, wie der Wert einer Information zu bemessen ist, wenn sie finanziell immer weniger einbringt. Eine mögliche Antwort: Eine richtige und gute Information ist im 21. Jahrhundert mehr wert als jemals zuvor, denn sie ist angesichts des Informationsüberflusses schwerer zu finden. Die große Herausforderung: Je schwerer eine Information zu finden ist, desto schwieriger wird es auch, genau jene Informationen zu finden, die es vor dem Verlust zu bewahren gilt. Betrachtet man jede einzelne Information als Erinnerung im Gedächtnis der globalisierten, digitalisierten, vernetzten Gesellschaft und das Internet als dessen Knoten- und Sammelpunkt, kann sich der Verlust dieser Informationen fatal auswirken, wenn auch nicht zwingendermaßen. Welche Informationen in Zukunft von Bedeutung sein könnten bleibt jedem Einzelnen und jeder Gruppe selbst überlassen.
Ausführliche Literaturhinweise finden Sie weiter unten.
Unsere Internet-Expertin Anna Katharina Pieper
ist Kulturhistorikerin. Ihre Schwerpunktthemen sind Identität und Gedächtnis, insbesondere im Hinblick auf Italien und Deutschland.
Sie haben Fragen? NIMIRUM erstellt auf wissenschaftlicher Grundlage kundenindividuelle Expertisen zu Trendthemen. Wenden Sie sich gerne an uns. Ihre Ansprechpartnerin ist Anja Mutschler. Sie erreichen sie telefonisch unter +49 (341) 580 680 73 oder per Mail an frage@nimirum.info
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Literatur-Empfehlungen
Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck (1999).
Assmann, Jan: „Der Begriff des kulturellen Gedächtnisses.“ In: Dreier/Euler (Hrsg): Kulturelles Gedächtnis im 21. Jahrhundert. Karlsruhe: Universitätsverlag Karlsruhe (2005), S. 19-30.
Bárány, Balázs: Informationsverlust durch Digitalisierung. Grundlagen und Konzepte zur Langzeitsicherung digitaler Informationen. Saarbrücken: Müller (2006).
Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a.M.: Fischer (2007) [The Social Construction of Reality. New York: Doubleday (1966).]
Degele, Nina: Informiertes Wissen. Eine Wissenssoziologie der computerisierten Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Campus (2000).
Dimbath, Oliver: „Vom automatisierten Vergessen und von vergesslichen Automaten.“ In: Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e.V (1/2008), http://www.fiff.de/publikationen/fiff-kommunikation/fk-1-2008/fiff-ko-1-2008-vergessen/ (20.03.2015). S. 38-41.
Dreier, Thomas: „Kulturelles Gedächtnis – Digitales Gedächtnis. Eine Einführung.“ In: Dreier/Euler (Hrsg): Kulturelles Gedächtnis im 21. Jahrhundert. Karlsruhe: Universitätsverlag Karlsruhe (2005), S.3-18.
Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart: Enke (1967) [La mémoire collective. Paris: Presses Universitaires de France (1950)].
Landwehr, Achim/Stockhorst, Stefanie: Einführung in die Europäische Kulturgeschichte. Paderborn: Schöningh (2004).
Maasen, Sabine: Wissenssoziologie. Bielefeld: transcript (2009).
Möller, Svenja: „Wissen, was es ist! Die Bedeutung der Medienkompetenz für die Wissensnavigation im Cyberspace.“ In: Udo Thiedeke (Hrsg.): Soziologie des Cyberspace. Medien, Strukturen und Semantiken. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften (2004). S. 355-377.
Thiedeke, Udo: „Drei – zwei – eins – download! Über die Schwierigkeit virtualisiertes Eigentum zu besitzen.“ In: Udo Thiedeke (Hrsg.): Soziologie des Cyberspace. Medien, Strukturen und Semantiken. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften (2004). S. 283-307.
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