Blog-Eintrag -

"Shitstorms sind oft Teil einer größeren Krise"

Dr. Christian Salzborn wurde 1985 in Sachsen-Anhalt geboren und entdeckte schon früh sein Interesse für Medien und Kommunikation. Bereits in seiner Schulzeit war er freier Mitarbeiter der „Mitteldeutschen Zeitung“. Während seines Studiums der Angewandten Medienwissenschaft mit dem Schwerpunkt auf PR und Unternehmenskommunikation an der TU Ilmenau arbeitete er als stellvertretender Chefredakteur der Campusseite bei der „Thüringer Allgemeinen“. Nach Erhalt seines Diploms zum Medienwissenschaftler 2009 arbeitete er zunächst im Bereich Finanzpresse/Investor Relations der Porsche SE. Im Rahmen seiner Doktorarbeit wechselte er 2011 zur Onlinekommunikation und -Strategie der Daimler AG. Heute leitet er bei der der Marke smart (Daimler AG) Kooperationen und Product-Placement-Projekte.

Wie Medien ticken, lernte Dr. Christian Salzborn als Journalist während des Studiums. Anschließend  wechselte er in die Kommunikationsabteilungen süddeutscher Autobauer. NIMIRUM hat ihn getroffen, um über seine Untersuchung zu Shitstorms zu sprechen – die erste Dissertation zu diesem Thema in Deutschland. Immer noch ein brandaktuelles Thema – oder sogar immer mehr?  

Herr Dr. Salzborn, Sie schreiben, es gebe kein Allheilmittel gegen Shitstorms oder ähnliche Phänomene. Man müsse Gegenmaßnahmen fallspezifisch entwickeln. Welche Arten von Sturm gibt es eigentlich, und wie erkenne ich sie?

Der „plötzliche Sturm“ erreicht den Adressaten völlig unerwartet. Innerhalb weniger Stunden baut sich eine kritische Masse im Netz auf. Demgegenüber ermöglicht die „schwelende Empörung“ dem Unternehmen, den Shitstorm im Vorfeld zu erkennen, da sich das kritische Thema aufbaut und erst im weiteren Verlauf in einen Sturm der Entrüstung kulminiert. So verhält es sich auch beim Typ „gesellschaftlicher Pranger“, der sich aber inhaltlich von der eigentlichen (Unternehmens-)Verfehlung löst und Themen einer breiten gesellschaftlichen Ebene in den Mittelpunkt rückt.

Grundsätzlich gehört auch viel Erfahrung seitens der Kommunikationsverantwortlichen dazu, um rechtzeitig zu erkennen, ob ein Shitstorm vorliegt und, wenn ja, welcher. Der erste Sturm ist daher meist der schlimmste.

Ihre Arbeit hat ergeben, wenn ich das richtig verstehe, dass Shitstorms nur selten nachhaltigen wirtschaftlichen Schaden verursachen. Kann man ihn da nicht einfach aussitzen?

Nein. Neben den wirtschaftlichen Aspekten sind die Folgen für die Reputation des Adressaten, vor allem kurzfristig, nicht zu vernachlässigen. Wenn ich als Adressat nichts unternehme und den Sturm „aussitzen“ will, kann es passieren, dass er sich verselbständigt und die kritische Menge mein Nichthandeln als Arroganz deutet. Dann kann sich der Sturm verstärken. Beachten Sie auch: Shitstorms haben zwar kaum direkte wirtschaftliche Auswirkungen, aber sie können indirekt wirken, zum Beispiel wenn ganze Branchen unter Generalverdacht gestellt werden und es zu Mitgliederaustritten oder Abo-Kündigungen bei Unternehmen kommt, die gar nicht selbst von dem Shitstorm betroffen sind.

Wird eigentlich zu wenig präventiv getan, gerade um den „gesellschaftlichen Pranger“ zu vermeiden? Oder geht das heute gar nicht mehr – ist „die Gesellschaft“ überhaupt zu unübersichtlich geworden?

Prävention ist heutzutage aufwendiger geworden und verlangt mehr technisches Knowhow sowie monetäre und personelle Kapazitäten. Es ist bekannt, dass Unternehmen wie Nestlé oder die Deutsche Bahn nach negativen Erfahrungen im Netz das Thema ernst genommen und budgetär wie personell „aufgerüstet“ haben. Spezialteams wurden etabliert, die Tag und Nacht das Netz scannen, um rechtzeitig einschreiten zu können, wenn sich Kritik anbahnt. Studien (zum Beispiel hier und hier) zeigen aber immer wieder, dass professionelle Krisenkommunikation noch keine Selbstverständlichkeit in Unternehmen darstellt.

Die Gesellschaft ist nicht „unübersichtlicher“ als vor den Zeiten der Social Media, im Gegenteil. Kommunikatoren hatten nie bessere Mittel an der Hand, um die öffentliche Meinungslage einschätzen zu können. Und überblickt man die vergangenen Shitstorms von Wiesenhof (Tierschutz), IBM (Sexismus) oder Aldi (Religion), dann zeigt sich, dass oft ähnliche Themen zu Kritik führen.

Präventivmaßnahmen sind auch unbequem, nicht wahr? Man muss sich eingestehen, dass viel schiefgehen kann bei dem schönen Plan, den man schon gemacht hat?

Kommunikationsverantwortliche sollten es in den heutigen Zeiten als eine Herausforderung ansehen, trotz all der Risiken im Netz ihrer Kreativität treu zu bleiben. Die Beachtung der Gefahren bestimmter Themen sollte aber nicht nur am Anfang einer Ideenfindung stehen, sondern den gesamten Prozess der Projektentwicklung begleiten. Bei jedem Schritt sollten sich die Verantwortlichen überlegen, welche Auswirkungen dieser bei den potentiellen Rezipienten haben könnte.

Sie sagen, dass Shitstorms mit den bekannten Mitteln der Krisenkommunikation in den Griff zu bekommen sind, dass diese aber „angepasst“ werden müssen. Sind heute andere / mehr Abteilungen eines Unternehmens beteiligt an der präventiven oder reaktiven Auseinandersetzung mit Kunden und Kommentatoren?

Durchaus. Auch wenn nicht jedes Unternehmen die Möglichkeit hat, umfassende Maßnahmen zu installieren, nimmt die Sorge um den „zufriedenen Kunden“ zu – getreu dem Motto: „Der beste Sturm ist der, der nie ausbricht“. Große Unternehmen leisten sich Callcenter und externe Agenturen, die ihnen helfen, mit den Risiken im Netz umzugehen. Auch intern wächst das Bewusstsein, dass Shitstorms nicht mehr nur die Aufgabe des Social Media-Managers sind, sondern die Kollegen z. B. der Rechtsabteilung, Strategie oder Presse zumindest informiert, wenn nicht sogar involviert werden müssen. Wenn es ganz schlimm kommt, geht es bis zum Vorstand hoch.

Sagen Sie uns noch drei Dinge, die in Bezug auf Shitstorms gern übersehen werden?

Das ist zunächst einmal, dass Shitstorms komplex sind: Sie ergeben sich durch das Zusammenspiel zahlreicher Variablen auf den Ebenen der Plattformen, Akteure und Themen. Außerdem:

  1. Shitstorms stellen oft nur einen Teil einer Krise dar. Sie sind nicht pauschal mit dieser gleichzusetzen. In Fällen wie der Hamburg-Mannheimer (später Ergo, 2011) oder dem ADAC (2014) begleitete die Empörung im Netz nur eine viel umfassendere Krise, die in alle Medien, Gesellschaftsschichten oder sogar die Politik reichte. Diese Krise nur auf den Shitstorm zu reduzieren, greift zu kurz, denn dann werden die eigentlichen „Aufreger“ negiert.
  2. Sündenbockdilemma: In meiner Arbeit habe ich Fälle wie Adidas (2011) identifiziert, in denen das Unternehmen selbst nichts falsch gemacht hat, sondern aufgrund seiner öffentlichen Präsenz von bestimmten Interessengruppen instrumentalisiert wurde, um auf ein höher gelagertes Thema (hier Tierschutz bzw. Schutz der ukrainischen Straßenhunde) aufmerksam zu machen. Man darf durchaus die verbreitete Meinung in Frage stellen, dass von einem Shitstorm betroffene Unternehmen immer etwas falsch gemacht haben. Ebenfalls auf den Prüfstand gehört die Frage, ob die Entschuldigung wirklich der „heilige Gral“ unter den Reaktionen auf den Shitstorm ist.
  3. Bezugswandel: In den wenigsten Fällen, die ich untersucht habe, gab es ausschließlich ein Kernthema; oft gab es innerhalb der Diskussionen/Kommentierungen weitere thematische Nebenstränge, deren Ausprägungen stark variierten und die manchmal gar keinen direkten Bezug mehr zum Adressaten hatten. Ein ‚Bezugswandel‘ liegt vor, wenn ein Kernthema von einem Nebenstrang (ohne Adressatenbezug) abgelöst wird. Dadurch verliert die Empörung ihre direkte Beziehung zum Adressaten. Der Shitstorm endet für ihn. Die Ausprägung des ‚neuen‘ Themas bestimmt die weitere Entwicklung.

Wie sehen Sie vor dem Hintergrund Ihrer Arbeit das Thema Recherche? Inwiefern hat die Fähigkeit, Shitstorms zu antizipieren oder ihnen früh zu begegnen, mit Investitionen in die Recherche oder mit Strukturen von Unternehmen zu tun?

Zuerst muss innerhalb des Unternehmens ein Verständnis dafür entstehen, dass eine professionelle Krisenprävention, -Kommunikation und -Evaluation nötig ist. Wenn diese Voraussetzung geschaffen ist, bedingt der Grad des Anspruchs, den ich z. B. an das Monitoring stelle, die Höhe der Investitionen und die Art und Weise, welche Personalstrukturen geschaffen werden. Doch helfen all die Zahlen, Diagramme und Tabellen nichts, wenn der Kommunikator sie nicht interpretieren kann. Zahlen müssen immer auch professionell vermittelt und eingeordnet werden.

Was ist dann also die Rolle eines Wissensdienstleisters? Welche Leistungen sind besonders wichtig?

Die gelieferte Expertise muss verlässlich und anwendbar sein, das Preis/Leistungsverhältnis muss stimmen, und die Leistung muss im vereinbarten Zeitraum – in dieser Reihenfolge! Anwendbar heißt: Diese Art von Dienstleistern oder Agenturen müssen ein Verständnis für interne Prozesse des Unternehmens entwickeln. Vorschläge, die in der Unternehmenspraxis gar nicht umsetzbar sind, bringen einen nicht weiter. Dies sollte bereits in der Expertise beachtet werden. Das Verhältnis zwischen goldener Theorie und praktischer Umsetzbarkeit muss stimmen.


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