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Frankreich, Europameister der Demonstrationen und Streiks (Ländercheck, Folge 3)

Grund für den doppelten Ausnahmezustand sind Arbeits- und Sozialreformen, die den französischen Arbeitsmarkt ähnlich umgestalten sollen wie einst die Agenda 2010 den deutschen. Werden wir zum Zeugen einer grundlegenden Machtverschiebung, die gewollt oder ungewollt zur Mobilmachung breiter Schichten führt? Welche Rolle spielen die unterschiedlichen Akteure, insbesondere die Gewerkschaften?

„Loi de travail“ als Auslöser

Die so genannte „Loi de travail“ sieht eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und eine Reformierung des Arbeitsrechts vor; dazu gehören erleichterte Kündigungen und begrenzte Abfindungen. Die Reformen sind in Frankreich umstritten: Über ein Drittel der Bevölkerung spricht sich gegen sie aus und fürchtet um den Verlust der „acquis sociaux“, der sozialen Errungenschaften, die in Frankreich einen hohen Stellenwert besitzen.

Die sozialistische Regierung hat das Reformpaket gegen alle Widerstände durchgesetzt. Weil sie sich ihrer Mehrheit im Parlament nicht sicher war, hat Premierminister Valls es mit Hilfe des Paragraphen 49 umgangen und damit an politischer Legitimität eingebüßt. Valls, wie auch Präsident François Hollande und andere Regierungsmitglieder, sind höchst umstritten. Wichtige Politiker gelten seit Jahrzenten als abgehobene Elite, die Kluft zwischen ihnen als Absolventen der renommiertesten Hochschulen und der Bevölkerung wird tiefer. Nun zeigte die Regierung, dass sie nicht auf die Zustimmung des Parlaments angewiesen ist und noch weniger auf die der unzufriedenen Bevölkerung. Auch wenn der Vorgang juristisch einwandfrei war, blieb der bittere Beigeschmack, dass die Politik nicht mehr als Vertreter des Volkes, sondern als Vertreterin eigener Interessen agiert.

Die Vorgehensweise der Regierung erklärt sich dadurch, dass Hollandes und Valls’ bisherige Amtszeit wenig erfolgreich war; die hohe Arbeitslosigkeit bleibt nach wie vor das Hauptproblem. Gerade deswegen ist es für Hollande und Valls von so großer Bedeutung, die Reformen durchzusetzen. Mit der „Loi de travail“ können im günstigen Fall die Weichen für einen wirtschaftlichen Aufschwung gestellt werden. Man hofft, dass durch Ergebnisse, sprich sinkende Arbeitslosenzahlen, die Vorgehensweise im Nachhinein legitimiert wird.

Gewerkschaften reagieren ungewöhnlich heftig

Die französische Politik und die Arbeitswelt ist konfliktfreudiger als beispielsweise die deutsche, in der man eher nach Kompromissen sucht. Der Aufschrei in der Bevölkerung und bei den Gewerkschaften kann also angesichts eines großen Sozial- und Arbeitsreformpakets nicht weiter überraschen. Auch Streiks haben eine lange Tradition in Frankreich. Obwohl im Vergleich zu anderen europäischen Ländern wie Deutschland nur relativ wenige Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert sind, ist Frankreich eines der Länder in Europa mit den meisten Streiktagen im Jahr. Geschätzte 3 Millionen Tage im Jahr wird gestreikt – achtmal so viel wie in Deutschland.

Neu ist bei der aktuellen Mobilmachung das harte und teilweise rücksichtslose Vorgehen. Die Gewerkschaft CGT blockierte in Frankreich sechs von acht Ölraffinerien, sodass Autofahrer nur noch begrenzt Benzin tanken konnten. Das sorgte vor allem bei Pendlern für großen Unmut und bei Tankstellenbesitzern für einen nicht unerheblichen wirtschaftlichen Schaden. Der Weltkonzern Total kündigte an, sein Geschäft in Frankreich in Zukunft zurückfahren zu wollen.

Warum werden bei einem Arbeitsmarkt-Reformpaket Raffinerien blockiert? Es gibt keinen inhaltlichen Zusammenhang. Die Gewerkschaften, allen voran die CGT, zeigen ihre Macht und ihren absoluten Willen, nicht klein beizugeben – selbst wenn dabei noch größerer ökonomischer Schaden droht. Daher ist es nur logisch, dass auch während der Europameisterschaft die Streiks fortgesetzt werden, vor allem im Bereich Transportmittel, und noch weitere Berufsgruppen zu streiken beginnen, zum Beispiel die Müllabfuhr in Paris. Sie wollen größtmöglichen Druck auf die Regierung aufbauen und nehmen billigend in Kauf, dass während einer internationalen Großveranstaltung ein chaotisches Bild von Frankreich entsteht. Polizei und Sicherheitskräfte stehen ohnehin unter Druck angesichts der Gefahr durch Hooligans und Terroristen.

Wo stehen eigentlich die Franzosen?

Indem es Demonstranten und Gewerkschaften geschafft haben, innerhalb weniger Wochen chaotische Zustände in Frankreich herbeizuführen, wird der faktische Machtverlust der Regierung illustriert. Fragen muss man aber auch nach der Legitimität der gewerkschaftlichen Aktionen. Lediglich acht Prozent der französischen Arbeitnehmer sind Mitglied einer Gewerkschaft, 26,8 % davon in der CGT. Kann die CGT die Bevölkerung vertreten – zumal sie ihre Legitimität gern mit ihren Mitgliederzahlen begründet? Ihre Mittel, insbesondere die Straßenblockaden, widersprechen geltendem Recht und schränken die Ausübung anderer Freiheitsrechte massiv ein. An den Folgen der Sozialkämpfe leiden auch Personen, die nicht hinter den Aktionen stehen. Einige von diesen sind zwar gegen die Reformen, halten die Mittel der Mobilmachung aber für illegitim.

Die CGT verliert trotz anhaltender Ablehnung der „Loi de travail“ in der Bevölkerung immer mehr an Zuspruch, während der Arbeitsgeberverband Medef augenscheinlich als Sieger aus den Sozialkonflikten herausgehen wird. Sowohl Premierminister Manuel Valls auch als Arbeitsministerin Myriam El Khomri und der Präsident des Arbeitgeberverbandes Medef Pierre Gattaz sprechen davon, dass die Gewerkschaften die Menschen in „Geiselhaft nehmen“, um ihre Interessen durchzusetzen. Demonstrationen sind teilweise ausgeartet, man sieht brennende Polizeiautos und vermummte Personen. Dies hinterlässt in Zeiten latenter Terrorgefahr ein mulmiges Gefühl. Die konservative Zeitung Le Figaro spricht sogar vom „terrorisme social“, von sozialem Terrorismus. Vor allem Gewerkschaften und (gewalttätige) Demonstranten sollen damit diskreditiert werden. Wer die Analogie zum Terrorismus herstellt, lenkt von den politischen Forderungen der entsprechend Bezeichneten ab. Die inhaltliche Auseinandersetzung tritt zunehmend in den Hintergrund.

Der Staat kann kaum angemessen darauf reagieren. Wenn er Demonstrationen auf Grund von Gewaltexzessen verbieten will wie Mitte Mai in den westfranzösischen Städten Rennens und Nantes, löst das Empörung aus. Ebenso negativ kann ein zu hartes Durchgreifen von Polizei und Sicherheitskräften bewertet werden, wenn friedliche Demonstranten zu Schaden kommen, wie ein Student in Rennes, der Ende April durch einen Polizeieinsatz ein Auge verlor. Der Staat wird somit gezwungen, Fehler zu machen. Die Alternative, mit Gelassenheit auf Demonstrationen, Streiks und andere Aktionen zu reagieren, zeugt zum einen von Durchhaltevermögen, zum anderen zeigt man, dass man nicht auf Erpressungsversuche eingeht; das Risiko besteht jedoch darin, dass ganz Frankreich weiterhin chaotisch und bisweilen fast ohnmächtig wirkt. Dies kann nicht nur Touristen abschrecken, sondern auch wichtige Investoren.

Wie kann noch eine Einigung erzielt werden?

Der Klassen- und Sozialkampf auf Frankreichs Straßen nützt genauso wenig dem Gemeinwohl wie die gesellschaftliche Spaltung, die dieser zu Folge hat. Es besteht die Gefahr, dass noch tiefere Gräben zwischen der Bevölkerung und der Politik entstehen, was eine weitere Radikalisierung zur Konsequenz haben kann. Gewalt wird als legitimes Mittel verstanden, um gegen eine politische Entscheidung zu opponieren; die Macht der Straße ersetzt geltendes Recht. Gewerkschaften wie die CGT oder Force Ouvrière akzeptieren diese Folgen, um sich als wichtiger Akteur bei der Entscheidungsfindung zu positionieren. Der Zweck soll die Mittel heiligen. Kurz- und mittelfristig geht es zwar um dieses Reformpaket, langfristig versuchen die Gewerkschaften jedoch, an Macht zu gewinnen und sich als unabdingbarere Verhandlungspartner zu etablieren. Bei künftigen wichtigen Entscheidungen müssten sie konsultiert werden, um ein erneutes Chaos zu verhindern. Nie war die CGT präsenter in den Medien, davon erhofft sie sich auch steigende Mitgliederzahlen.

Im Ausland sorgen die aktuellen Ereignisse für Kopfschütteln. Auch deutsche Medien berichten ausführlich. Während die Franzosen auf die Straßen gehen, schauen die Deutschen Fußball, schreibt ein Journalist provokativ in dem Online-Magazin „Freunde der Künste“. Richtig ist, dass der Fußball auf Grund der aktuellen Ereignisse in den Hintergrund gerückt ist. Hollandes Hoffnung, durch ein erfolgreiches Abschneiden bei dem großen europäischen Turnier seine Beliebtheitswerte steigen zu sehen, schwindet allmählich. Wenn sich die Lage nicht beruhigt, wird auch ein Europameistertitel das soziale Klima in Frankreich nicht nachhaltig verbessern können – denn dieser Volkssport hat nicht den gleichen Stellenwert wie beim deutschen Nachbarn.

Die Fronten zwischen den einzelnen Akteuren haben sich verhärtet; Gewalt ist nicht mehr tabu. Eines zeigt die aktuelle Situation in Frankreich: Die Gesellschaft ist gespalten. Doch der Eindruck, dass hier nur zwei Gruppen aufeinandertreffen täuscht: Das schwarz-weiße Bild von Regierung gegen Gewerkschafter greift in Frankreich zu kurz, es gibt keine einfache Aufteilung in zwei Lager. Ein großer Teil der Franzosen heißt weder die Arbeitsmarktreform noch die aggressive Vorgehensweise der Gewerkschaften gut.

Doch die Krise kann nur überwunden werden, wenn alle Akteure und Betroffenen ins Boot geholt werden – ansonsten droht der Ausnahme- zum Normalzustand zu werden. 

Und die gesellschaftliche Spaltung bedeutet, dass sich Informations- und Kommunikationsverhalten einzelner Gruppen immer weiter auseinander entwickeln. NIMIRUM bleibt dem Thema Zielgruppen auf der Spur und erstellt Analysen und Handlungsempfehlungen.

Zur Person: Julia Burmeister ist im Bereich internationale Bildung tätig. Ihren Schwerpunkt Auswärtige Bildungs- und Kulturpolitik verfolgt sie seit ihrem Abschluss im Fach International Relations with International Law an der University of Kent.

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