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Mit Kindern über den Nationalsozialismus sprechen

Pressemitteilung -

Mit Kindern über den Nationalsozialismus sprechen

Computerspiele gelten als eines der Medien, welche für rechtsextreme Propaganda genutzt werden. Unter anderem Social-Media oder Musik gehören ebenso dazu. Mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen kann das dahinterstehende Gedankengut detaillierter diskutiert werden. Doch sollte dementsprechend der Nationalsozialismus und die damit einhergehenden Gräueltaten auch mit Kindern im Grundschulalter besprochen werden? Und falls dem so ist, wie kann das Thema kindgerecht umgesetzt werden? Michael Otten ist Lehrkraft für besondere Aufgaben im Fach Sachunterricht an der Universität Vechta und forscht unter anderem zu historischen sowie politischen Lernen im Grundschulunterricht. Im Interview sprichter zum Thema.


Mehrere 100.000 Menschen haben in den vergangenen Wochen und Monaten gegen Rassismus, nationalsozialistisches Gedankengut und antidemokratische Vorhaben in Deutschland demonstriert. Vielfach waren Eltern mit ihren Kindern dabei. Wie lässt sich der Grundgedanke solcher (politischen) Demonstrationen für Kinder im Grundschulalter erklären?

Michael Otten (MO): Kinder hören Erwachsene über die Demonstrationen sprechen oder bekommen davon z. B. durch Kindernachrichten oder Social-Media-Content mit. Demonstrationen sind daher als sozial-politische Phänomene in ihrer Lebenswelt präsent. Es ist daher nur folgerichtig, darüber nachzudenken, wie mit Kindern darüber gesprochen werden kann. Bevor Erwachsene nun aber direkt selbst erklären, schlage ich vor, dass sie zuerst genau hinhören, was Kinder fragen und ob sie wirklich etwas wissen wollen. Viele Kinder werden vermutlich Fragen haben. Jetzt können Erwachsene diese Fragen spiegeln, indem sie die Kinder ermutigen, eigene (erste) Antworten zu äußern. Auf diese Weise können sich Erwachsene ein Bild von den Vorstellungen der Kinder machen. Dieses Wissen hilft dann eigene Erklärungen passend zum Entwicklungsstand der Kinder zu formulieren.

Die Beweggründe und Botschaften von Demonstrationen sind durchaus ambivalent, wenn es nur darum geht, gegen etwas zu sein. Gegen Rassismus und Hetze zu sein, ist begrüßenswert. Für Kinder sollte aber auch klar werden, wie der Gegenentwurf aussieht, d. h. wofür im positiven Sinn eingestanden wird. Aus meiner Sicht sind daher Erklärungsansätze geeignet, die zumindest beide Pole verbinden. Zum Beispiel: Wenn Menschen sich in der Öffentlichkeit zeigen, um sich für oder gegen etwas stark zu machen, wird das Demonstration genannt. In der letzten Zeit gehen viele Menschen auf die Straße, um ein Zeichen für ein gutes Miteinander und Wertschätzung zwischen den Menschen zu setzen. Sie wollen nicht, dass Menschen ausgegrenzt, beleidigt oder als weniger wertvoll angesehen werden. Ihnen ist es wichtig, dass alle Menschen auch wirklich die Rechte erhalten, die ihnen zustehen. Alle Menschen müssen würdevoll behandelt werden. Dabei haben viele Sorgen, dass es manche Personen gibt, die die Demokratie in Deutschland schwächen oder gar ganz abschaffen wollen. In einer Demokratie darf jeder Mensch seine Meinung sagen, in Freiheit leben und (ab einem bestimmten Alter) eigene Entscheidungen treffen und bei Wahlen eine Stimme abgeben. Jeder Mensch darf demonstrieren, wenn bestimmte Regeln eingehalten werden.

Zum Inhalt der Demonstrationen, welcher stark mit der Geschichte Deutschlands verbunden ist: Der Nationalsozialismus brachte unter anderem radikal menschenverachtendes Gedankengut und Handeln mit sich – bis hin zum, von Deutschland begonnen zweiten Weltkrieg und die Verfolgung und Tötung von Millionen von Menschen. Ein Thema, welches für Kinder mutmaßlich nur schwierig didaktisch aufzubereiten und von ihnen zu begreifen ist. Sollte man aus Ihrer Sicht dennoch bereits in der Grundschule darüber sprechen, und wie ist dies kindgerecht möglich?

MO: Auf den Demonstrationen der letzten Zeit sind Botschaften zu lesen wie „Nie wieder ist jetzt“ oder „AfD wählen ist so 1933“. Im öffentlichen Diskurs werden also die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen mitunter schnell historisch parallelisiert und gedeutet. Das erscheint plausibel, wenn die Maxime von Adorno "dass Auschwitz sich nie wiederhole" als Leitbild der bundesrepublikanischen Bildungsarbeit z. B. in Schulen gilt. Ich wäre jedoch vorsichtig, die Thematisierung von Holocaust für eine aktuelle Werte- und Moralbildung zu instrumentalisieren. Gleichwohl sind Kontinuitäten bis heute offensichtlich: Menschen, die von den Nationalsozialisten zu Anderen gemacht, stigmatisiert, diskriminiert und aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen wurden, sind heute nach wie vor oft marginalisiert und benachteiligt und werden angefeindet.

Mit Kindern über das nationalsozialistische Regime und den Holocaust zu sprechen, ist durchaus herausfordernd, aber machbar, wenn einige Prämissen berücksichtigt werden: Details der systematischen Ermordung sollten nicht im Mittelpunkt stehen, Gewaltdarstellungen werden Kindern nicht gezeigt, eine Betroffenheitspädagogik ist nicht geeignet, hitlerzentristische Geschichtsdeutungen werden nicht weitergegeben. Zu empfehlen sind dagegen biografische Erzählungen, die Beschäftigung mit Kinderliteratur und eine differenzierte Auseinandersetzung mit der doch sehr unterschiedlichen Lebensrealität der damaligen Menschen durch eine Thematisierung der Gesellschaft des Holocaust. Sollten Kinder mehr wissen wollen, dann ist es auch ergiebig, über unterschiedliche Opfergruppen zu sprechen und auch nonkonformes Verhalten und Widerstand im Nationalsozialismus zu thematisieren. Grundsätzlich sollte immer gelten, dass Kinder nicht überfordert werden, die Thematik aber auch nicht bagatellisiert wird. Der Rahmen für einen verantwortungsvollen Umgang kann zusammengefasst werden: Respekt vor den Kindern, Respekt vor der Thematik, Respekt vor den Opfern. Erwachsene dürfen gern auch eigene Sprach- und Hilflosigkeit äußern, nur so können sie authentisch mit Kindern ins Gespräch kommen.

Und wie lässt sich dieses Wissen in die Gegenwart holen, sodass Kindern die Bedeutung von Demokratie und die aktuelle Parteienlandschaft bewusster wird?

Den Zugang zur Thematik erhalten Kinder durch Beobachtungen und Erfahrungen aus ihrer Lebenswelt. Diese individuellen Bezugspunkte können mit Kindern zum Anlass für ein Gespräch genommen werden. Ich plädiere dafür, ausgewählte Aspekte gegenwärtiger Erinnerungskulturen aufzugreifen: über soziale Praxis des Erinnerns sprechen (z. B. Rituale), die gesellschaftliche Funktion von Erinnerungskulturen in den Blick zu nehmen und Kontroversen und Probleme ebendieser zu erörtern.

Wenn es darum geht, die Demokratie in den Mittelpunkt zu rücken, sollte eine demokratische Praxis gefördert werden. Damit ist die Absicht verbunden, dass Kinder positive Selbstwirksamkeitserfahrungen machen, indem sie partizipieren können, bei Entscheidungen mitwirken, sich zivilgesellschaftlich engagieren. Ehrlicherweise sollte dann mit den Kindern auch über Grenzen gesprochen werden, wenn bestimmte Erfahrungsräume und Befugnisse Kindern eben nicht zur Verfügung stehen.

Stärker kognitiv ausgerichtet, wäre doch zu viel verlangt, wenn Kinder die aktuelle Parteienlandschaft überblicken oder gar differenziert verstehen müssten. Wenn Kinder ein erstes Verständnis von politischen Basiskonzepten wie Entscheidung (u. a. Wahlen, Regierung, Parteien) oder Gemeinwohl (u. a. Frieden, Gerechtigkeit, Menschenwürde) entwickeln, ist das schon ambitioniert.

Bereichernd für das Verstehen von Problemen uneingelöster demokratischer Versprechen können marginalisierte Sichtweisen, insbesondere die der von Ausgrenzung und Gewalt Betroffenen, sein. Viele Kinder und Erwachsenen können sich vermutlich Lebensrealitäten von Menschen mit Exklusions- und Benachteiligungserfahrungen gar nicht vorstellen.

Sie sprechen von früher Rechtsextremismusprävention und Demokratieförderung – wie hängt dies mit den vorhergehenden Ausführungen zusammen?

MO: Zunächst ist eine Prävention von Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit eine anlasslose Daueraufgabe, die nicht nur dann auf den Plan gerufen werden kann, wenn aktuelle Ereignisse Bedenken auslösen. Menschenfeindliche Einstellungen wie Rassismus, Antisemitismus, Feindlichkeit gegen Sinti:zze und Rom:nja oder Trans- und Queerfeindlichkeit lassen sich seit Jahrzehnten – durch viele Studien bestätigt – in der sogenannten Mitte der Gesellschaft messen. Sie sind also durchaus kein Phänomen von radikalisierten Parteien und Milieus. Dem Präventionsgedanken darf auch keine ausschließliche Verhinderungslogik und Defizitorientierung zugrunden liegen. Es sollte immer darum gehen, für alle Kinder gute Entwicklungschancen zu gewährlisten, ihre Ressourcen zu aktivieren und sie in ihren Kompetenzen zu fördern. Für Kinder im Grundschulalter sind eine positive Haltung zu demokratischen Werten, sozial-kognitive Fähigkeiten (u. a. Perspektivwechsel, Reflexion über multiple soziale Kategorisierungen), ein eigenes erfülltes Bedürfnis nach Zugehörigkeit von zentraler Bedeutung. Diese Rahmenbedingungen sind für Kinder die Voraussetzung für eine Teilhabe an der Gesellschaft und für politische Urteils- und Handlungsfähigkeit, gleichzeitig sind sie aber auch Schutzfaktoren gegen eine mögliche Radikalisierung.

Mehr Informationen: Themenheft "(Über-)Leben im Nationalsozialismus" der Zeitschrift "Grundschule Sachunterricht 99", Friedrich Verlag: https://www.friedrich-verlag.de/shop/ueber-leben-im-nationalsozialismus-heft-17799 oder direkt in der Universitätsbibliothek Vechta, Driverstraße 26: https://opac.lbs-osnabrueck.gbv.de/DB=3/XMLPRS=N/PPN?PPN=1858206731

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