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Prof. Dr. Jochen A. Bär ist Professor für Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Vechta
Prof. Dr. Jochen A. Bär ist Professor für Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Vechta

Pressemitteilung -

Wörter des Jahres 2023 | Prof. Dr. Jochen A. Bär, stellvertretender Vorsitzender der Gesellschaft für deutsche Sprache, berichtet

Das von der Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden gewählte Wort des Jahres ist Krisenmodus. Krisen gab es schon immer. Aber in diesem Jahr scheinen die Krisen und ihre Bewältigung zu kulminieren. Um einen Satz des Vizekanzlers zu modifizieren: „Wir sind umzingelt von Krisen.“ Noch nicht bewältigte Krisen wie Klimawandel, der Russland-Ukraine-Krieg oder die Energiekrise werden von neuen Krisen eingeholt: Nahostkrieg, Inflation und Schuldenkrise. Auch die Bildungskrise spitzt sich zu. Der Ausnahmezustand ist längst zum Dauerzustand geworden. Gefühle wie Unsicherheit, Ängste, Wut, Hilflosigkeit und Ohnmacht prägen häufig den Alltag. Zwischen Apathie und Alarmismus zu einem angemessenen Umgang mit den andauernden Ausnahmesituationen zu finden, fällt vielen Menschen schwer. Linguistisch zu beobachten ist dies an einer zunehmenden sprachlichen Radikalisierung im öffentlichen Raum, an Hate-Speech in den sozialen Medien und Verschwörungserzählungen.

Antisemitismus (Platz 2) ist hierzulande durchaus kein neues Phänomen; er existierte lange vor dem Nationalsozialismus und ist auch nach dem Zweiten Weltkrieg nie ausgestorben. Spätestens der Angriff der islamistischen Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 offenbarte aber, dass es in Deutschland nicht nur rechts-, sondern auch linksradikalen Antisemitismus gibt. Ebenso trat eine islamistisch geprägte und in Teilen der muslimischen Bevölkerung wahrnehmbare Judenfeindlichkeit deutlich zutage. Mit dem Slogan „Nie wieder ist jetzt!“ zeigen dagegen viele Menschen Flagge gegen Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.

Um die Lesefähigkeit der Bevölkerung ist es nicht gut bestellt – die Schulschließungen während der Pandemie und die Deutschkenntnisse von Migrantinnen und Migranten dürften die Situation noch verschlimmert haben. In jüngsten Studien erfüllen bis zu 31 Prozent der Viertklässler nicht die Mindeststandards beim Lesen. Das Adjektiv leseunfähig (Platz 3) bezieht sich jedoch darüber hinaus auch auf das Verstehen komplexerer Texte, das offenbar immer mehr Menschen Schwierigkeiten bereitet, und ist ein Verweis auf eine grundlegende Bildungsmisere in Deutschland.

Die rasanten Fortschritte in der Künstlichen Intelligenz (KI) bergen große Chancen. Der KI-Boom (Platz 4) leitet eine Umwälzung in vielen Bereichen ein: in der Forschung und im Gesundheitswesen (z. B. Krebsforschung), in der Fertigungs- und Materialtechnologie, in der Verkehrssicherheit und -planung u. a. Auf der anderen Seite werden auch Gefahren erkennbar, etwa für Arbeitsplätze und auch für das Klima. So könnte in naher Zukunft, Berechnungen zufolge, der Energieverbrauch der weltweiten KI-Systeme auf mehr als 80 Terawattstunden pro Jahr ansteigen – was dem Strombedarf von Ländern wie den Niederlanden, Schweden oder Argentinien entspricht.

Die Regierungskoalition aus SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen, nach den drei Parteienfarben gemeinhin als Ampelkoaliton bezeichnet, trug 2023 ihre Kontroversen um politische Positionen immer wieder öffentlich aus. Der Ampelzoff (Platz 5) drehte sich um Fragen der Wirtschafts-, Klimaschutz-, Sozial- und Migrationspolitik und führte bei Opposition und Medien wiederholt zu der Frage nach der Regierungsfähigkeit der Koalition.

Die Substantivgruppe hybride Kriegsführung (Platz 6), ursprünglich ein militärtheoretischer Fachterminus, bezeichnet Mischungen von offenen und verdeckten, regulären und irregulären Strategien, beispielsweise in Partisanen- und Guerillakriegen. Im Bewusstsein der deutschen Sprachöffentlichkeit ist der Ausdruck insbesondere mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine verbunden. Die Auswirkungen dieser Art verschleiernder Kriegsführung sind in Form von Hackerangriffen und Propagandakämpfen um die öffentliche Meinung auch hierzulande zu spüren.

Eine Migrationsbremse (Platz 7) forderte angesichts der weiter ansteigenden Asylbewerberzahlen der brandenburgische Innenminister. Die Wortbildung, die eine Reihe mit weiteren -bremse-Komposita wie Schuldenbremse, Kostenbremse oder Miet-/Strom-/Gaspreisbremsebildet, steht für die 2023 intensiver gewordene Debatte um den politischen Umgang mit Migration und ihren Folgen für die Gesellschaft. Auch der Bundeskanzler schwenkte ein: „Wir müssen endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben.“

Ein Milliardenloch (Platz 8) riss Mitte November das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in die Finanzplanung der Ampelkoalition. 2021 hatte die Bundesregierung zur Bewältigung der Corona-Krise zusätzliche Kredite in Höhe von 60 Milliarden Euro aufgenommen. Wie sich herausstellte, wurden diese nicht gebraucht, und so wollte man in künftigen Jahren darüber verfügen können. Das höchste deutsche Gericht entschied jedoch, dass sich die Feststellung einer Notlage auf ein konkretes Haushaltsjahr beziehen muss und deshalb für jedes Haushaltsjahr gesondert zu treffen ist. Die Regierung steht damit vor der schwierigen Aufgabe, die Milliarden einzusparen oder anderweitig zu beschaffen.

Das Substantiv Teilzeitgesellschaft (Platz 9) kennzeichnet die immer stärker werdende Tendenz, den Anteil reduzieren zu wollen, den die Erwerbstätigkeit an der eigenen Lebenszeit einnimmt. Die Diskussion um die Vier-Tage-Woche (bei vollem Lohnausgleich) und auch Wortbildungen wie Qualitätszeit (= Freizeit) oder Work-Life-Balance gehören heute zum Alltag. In vielen Berufsfeldern werden künftig wohl neue Modelle erforderlich sein, um genügend qualifizierte Bewerberinnen und Bewerber anzusprechen.

Der Kussskandal(Platz 10) bezieht sich auf den Eklat, den Spaniens Fußballverbandspräsident Luis Rubiales auslöste, indem er Jennifer Hermoso, Kapitänin des spanischen Fußballnationalteams, bei der Weltmeisterschafts-Siegerehrung in Sydney ungefragt öffentlich auf den Mund küsste. Der Vorfall löste in Spanien und vielen anderen Ländern, auch in Deutschland, eine Sexismus-Debatte aus; Rubiales musste zurücktreten. Orthographisch fällt das Substantivkompositum Kussskandal durch den dreimal unmittelbar aufeinanderfolgenden Buchstaben s auf – eine Konstellation, die auch nach der Rechtschreibreform von 1998 im Deutschen selten geblieben ist.

Wörter des Jahres / Gesellschaft für deutsche Sprache

Die Wörter des Jahres der Gesellschaft für deutsche Sprache werden 2023 zum 47. Mal in Folge als sprachlicher Jahresrückblick bekannt gegeben. Die Aktion, die mittlerweile weltweit Nachahmung findet, ist die älteste ihrer Art. Traditionell suchen die Mitglieder des Hauptvorstandes und die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der GfdS nicht nach den am häufigsten verwendeten Ausdrücken, sondern wählen solche, die das zu Ende gehende Jahr in besonderer Weise charakterisieren.

Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat weltweit 100 Zweigvereine. Sie wurde 1947 gegründet. Prof. Bär hat von 1998 bis 2001 als ihr wissenschaftlicher Mitarbeiter in Wiesbaden gearbeitet. Seit 2012 ist er Vorsitzender des von ihm gegründeten Zweiges der Gesellschaft in Vechta, seit 2015 Mitglied ihres fünfköpfigen Hauptvorstandes und seit 2019 ihr stellvertretender Vorsitzender.

Eine ausführlichere Erläuterung zu Krisenmodus ist hier zu finden: https://www.uni-vechta.de/germanistik/sprachwissenschaft/wdj/liste/2023.

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