Direkt zum Inhalt springen
Eine gestresste Person hält sich den Kopf und hat viele bunte Haftnotizen im Gesicht kleben, auf denen Wörter wie „Bills“, „K
Mental Load im Alltag: Zu viele To-dos, zu wenig Zeit.

Blog-Eintrag -

Unbezahlte Top-Managerin gesucht: Wie unser Wirtschaftssystem Frauen ausbeutet

„Schreib mir eben eine Liste, dann gehe ich einkaufen“, sagt mein Mann am Telefon, während unser Einjähriger an meinem Bein nörgelt, ich die Wäsche aufhänge und gleichzeitig versuche, im Kopf meine Keynote für die nächste Woche vorzubereiten. Derartige Szenen tragen endlich einen Namen: Mental Load. Was dieses Konzept, das Gefühl tausender offener Tabs im Kopf, mit dem Fortbestand des Kapitalismus zu tun hat und was wir alle dagegen tun können, das lesen Sie hier.

„Wir müssen wieder mehr arbeiten“, propagiert Bundeskanzler Friedrich Merz. Doch wen genau meint er eigentlich mit „wir“?

Bundesweit steigt die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen stetig. Belastungsreaktionen und Anpassungsstörungen sind neben Depressionen die häufigsten Diagnosen, besonders in den systemrelevanten Branchen Gesundheit und Soziales. Die Folge: erhöhte Gesundheitskosten, Produktivitätsverlust und Fachkräftemangel.

Noch etwas zeigt sich in aktuellen Erhebungen (u.a. infas – Institut für angewandte Sozialforschung et al. (2023): Ergebnisse der Vermächtnisstudie 2023. Unter URL: https://www.infas.de/ergebnisse-der-vermaechtnisstudie-2023/): Über alle Schichten, Berufe und Regionen hinweg bilden Frauen die am meisten gefährdete Personengruppe. Es sind vorwiegend Frauen im Alter von 30 bis 45 Jahren, in heterosexuellen Paarbeziehungen lebend, mit Kindern. Pflegende, alleinerziehende und beruflich gering qualifizierte Frauen sind zusätzlich belastet.

Der Begriff „Mental Load“ wurde in den 1970er Jahren in den USA geprägt. Populär wurde er durch den Comic „You should’ve asked“ von Emma. Er beschreibt die ungleiche Gewichtung von Organisations- und Haushaltsarbeit in heterosexuellen Beziehungen.

Vor 50 Jahren war die Rollenverteilung klar: Vati geht arbeiten, Mutti kümmert sich um Kinder und Haushalt. Ein Erwerbseinkommen reichte aus, die Verantwortungen waren eindeutig geregelt. Dass sich manche Frauen heutzutage das tradierte Modell zurückwünschen (siehe TradWive-Bewegung), zeigt die immense Überlastung und Überforderung mit den an sie gerichteten Erwartungen, denen sie nicht gerecht werden können.

Der Irrglaube, Frauen könnten heute alles erreichen und hätten dieselben Karrierebedingungen wie Männer, verzerrt die Realität. Er verursacht immensen Druck, alles zu sein: die perfekte Partnerin, organisierte Hausfrau, aufopfernde Mutter und leistungsfähige Arbeitnehmerin.

Studien belegen (Lott, Yvonne; Bünger, Paula (2023): WSI Report Nr. 87. Mental Load – Frauen tragen die überwiegende Last. Unter URL: https://www.boeckler.de/fpdf/HBS-008679/p_wsi_report_87_2023.pdf ): Obwohl die Frauenerwerbsquote steigt, werden Frauen von Mental Load und Care-Arbeit nicht in gleichem Maße entlastet. Selbst wenn die Frau voll erwerbstätig ist und ihr Einkommen das des Partners übersteigt, leistet sie deutlich mehr unbezahlte Arbeit im privaten Raum als ihr Mann.

Das Resultat: chronischer Stress, der zu Erschöpfung, Schlafstörungen, Konzentrationsproblemen und einem geschwächten Immunsystem führt. Erschöpfungsdepressionen und Angststörungen können die Folge sein. Gut ausgebildete Frauen trennen sich häufiger und entscheiden sich vermehrt gegen eigene Kinder – einer der Gründe für die sinkende Geburtenraten hierzulande.

Die Ursachen für die Ungleichbelastung sind vielfältig und nicht auf vorsätzliche Unterlassung der Männer zurückzuführen:

  • Traditionelle Rollenbilder: Unsere eigene Sozialisation mit einer sich aufopfernden Mutter und einem passiven Vater prägt. Stereotype finden sich in Kinderbüchern und Medien. Die widerlegte Theorie des „Mutterinstinkts“ hält sich hartnäckig.
  • Mediale Darstellung von Frauen: Frauen werden in Mainstream-Formaten oft als zuarbeitende und fürsorgliche Nebenrolle dargestellt. Zudem werden weibliche Führungskräfte in Politik und Wirtschaft häufiger medial angegriffen oder ihre Mutterschaft als Hindernis instrumentalisiert.
  • Mangelnde Kommunikation/Erschöpfung: Frauen mit geringem Einkommen oder Bildungslücken fehlt oft die Kraft für feministische Kämpfe. Sie wählen den Weg des geringsten Widerstands: „Bevor ich diskutieren muss, mache ich es lieber selbst.“
  • Hierarchisierung und fehlende Wertschätzung: Im Berufsumfeld übernehmen Frauen häufiger assistierende, organisatorische Kleinstaufgaben (z.B. Spülmaschine ausräumen), unabhängig von ihrer Qualifikation. Im Privaten hingegen fungieren Frauen als „Top-Managerinnen“, während Männer eher als Befehlsempfänger (re-) agieren. Dies zeigt: Mental Load ist ein strukturelles (und kein individuelles) Problem, begründet im Patriarchat und Kapitalismus. Lücken im System, wie fehlende KiTa-Plätze, begrenzte Homeoffice-Möglichkeiten, das Ehegattensplitting usw. verstärken die Problematik.

Schätzungen zu Folge machen Care Arbeit und Mental Load rund 40% unserer Wirtschaftsleistung (gemessen im BIP) aus.

Das bedeutet: legten Frauen von heute auf morgen ihre unbezahlten Tätigkeiten nieder, dann würde das gesamte Wirtschaftssystem kollabieren. Denn der Kapitalismus fußt von unbezahlter Sorge- und Denkarbeit.

Lösungsstrategien zur Reduktion des Mental Loads

Neben der Bestandsaufnahme und Sichtbarmachung der Denkaufgaben ist die regelmäßige Kommunikation der eigenen Bedürfnisse und die Neuverteilung der Verantwortlichkeiten unerlässlich.

  • Tools nutzen: Online-Tools wie die Who Cares App oder der Mental Load & Equal Care Test helfen bei einer fairen Aufteilung. Geteilte Kalender und synchronisierte Einkaufsplaner sind elementar.
  • Als Frau – Loslassen lernen: Perfektionismus und Kontrollmechanismen abzulegen, nicht zeitkritische Dinge unerledigt zu lassen, Hilfe von Dritten anzunehmen und „Nein“ zu sagen, kann die individuelle Belastung stark verringern.
  • Als Mann – Männlichkeit neu definieren: Das bedeutet, dem Patriarchat die Stirn zu bieten und die volle Verantwortung für Aufgaben zu übernehmen. Dazu gehört es, proaktiv Termine zu koordinieren, die nächste Kinderkleidergröße zu kennen, Elternzeit einzufordern und sich offen als Feminist zu positionieren.
  • Kinder einbeziehen: indem der Vater unaufgefordert Hausarbeit erledigt oder als erster im Betrieb lange Elternzeit nimmt, wachsen Kinder mit einem neuen Weltbild auf. Hierdurch werden „aus dem Kleinen heraus“ gesellschaftliche Strukturen neu geschaffen.

Diese Veränderungen führen nicht nur zu mehr Zufriedenheit und Gesundheit bei Frauen, sondern gesamtgesellschaftlich zumehr Teilhabe und Wohlbefinden – skandinavische Länder leben es vor.

Wen meinte der Herr Bundeskanzler jetzt mit seiner Forderung nach mehr Arbeit? Frauen mit einem bezahlten und einem unbezahlten Job können es auf jeden Fall nicht gewesen sein.

Kontakt
Zukunftszentrum MV+ / Universität Rostock
Leonie Poos
leonie.poos@uni-rostock.de
0176/99798335

Links

Themen

Kategorien

Regionen

Kontakt

  • Eine gestresste Person hält sich den Kopf und hat viele bunte Haftnotizen im Gesicht kleben, auf denen Wörter wie „Bills“, „K
    Unbezahlte Top-Managerin gesucht: Wie unser Wirtschaftssystem Frauen ausbeutet
    Lizenz:
    Nutzung in Medien
    Dateiformat:
    .png
    Dateigröße:
    2000 x 1125, 2,26 MB
    Download